09/04/2010

glaub ich - nicht / Nr. 41



 "Eine Weltanschauung, die uns wahrhaft befriedigen soll, muss uns 
wirklich von der Stelle im Weltall, wo wir ohne sie stehen, weg-
bringen, sie muss uns in absolute Bewegung versetzen. Wir müssen 
durch sie nicht bloß Aufschluss darüber erhalten, was wir sind,
sondern wir müssen etwas durch sie werden." Rudolf Steiner, GA 39, S. 132

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~



Wer bin ich? Sie sagen mir oft,
ich träte aus meiner Zelle
gelassen und heiter und fest
wie ein Gutsherr aus seinem Schloss.

Wer bin ich? Sie sagen mir oft,
ich spräche mit meinen Bewachern
frei und freundlich und klar,
als hätte ich zu gebieten.

Wer bin ich? Sie sagen mir auch,
ich trüge die Tage des Unglücks
gleichmütig, lächelnd und stolz,
wie einer, der Siegen gewohnt ist.

Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen?
Oder bin ich nur das, was ich selbst von mir weiß?
Unruhig, sehnsüchtig, krank, wie ein Vogel im Käfig,
ringend nach Lebensatem, als würgte mir einer die Kehle,
hungernd nach Farben, nach Blumen, nach Vogelstimmen,
dürstend nach guten Worten, nach menschlicher Nähe,
zitternd vor Zorn über Willkür und kleinlichste Kränkung,
umgetrieben vom Warten auf große Dinge,
ohnmächtig bangend um Freunde in endloser Ferne,
müde und leer zum Beten, zum Denken, zum Schaffen,
matt und bereit, von allem Abschied zu nehmen?

Wer bin ich? Der oder jener?
Bin ich denn heute dieser und morgen ein andrer?
Bin ich beides zugleich? Vor Menschen ein Heuchler
und vor mir selbst ein verächtlich wehleidiger Schwächling?
Oder gleicht, was in mir noch ist, dem geschlagenen Heer,
das in Unordnung weicht vor schon gewonnenem Sieg?

Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott.
Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, Gott! 


Juni 1944
Dietrich Bonhoeffer
am 9. April 1945 erhängt im KZ Flossenbürg


 

*


9 Kommentare:

  1. als hätte ers heute für mich geschrieben...

    ringend nach Lebensatem...

    AntwortenLöschen
  2. Das habe ich eben auch gedacht, als ich die Worte abschrieb: Ich komme mir so erkannt vor...

    AntwortenLöschen
  3. In diesen Tagen nehme ich den Faust mit meinem Sohn durch und erlebe, wie ihn dieses Thema sehr interessiert.

    Ist es der Zeitgeist, in dem wir eingeklinkt sind?

    «Mama,
    erkläre mir,
    was Liebe ist»,
    fragte mich mein Sohn.

    AntwortenLöschen
  4. Kannst dus mir bitte auch erklären, "Mama"?
    Denn ich habe nun, ach, zwei und mehr Seelen in meiner Brust, die manchmal ein Tohuwabohu inszenieren, dass ich nicht mehr weiß, ob ich's bin oder nicht und wer hier Frau im Haus ist.

    Aus Verzweiflung über die Schatten
    fand ich dies:

    "Das Wollen, das Fühlen, sie erwarmen die Menschenseele
    auch noch im Nacherleben ihres Ursprungszustandes.
    Das Denken lässt nur allzuleicht in diesem Nacherleben kalt;
    es scheint das Seelenleben auszutrocknen.
    Doch dies ist eben nur der sich stark geltend machende Schatten seiner lichtdurchwobenen,
    warm in die Welterscheinungen untertauchenden Wirklichkeit.
    Dieses Untertauchen geschieht mit einer
    in der Denkbetätigung selbst dahinfließenden Kraft,
    welche Kraft der Liebe in geistiger Art ist."

    Rudolf Steiner, Philosophie der Freiheit

    AntwortenLöschen
  5. Ja, so ist es!


    ...«Das Denken lässt nur allzuleicht in diesem Nacherleben kalt;
    es scheint das Seelenleben auszutrocknen» ....


    Was Du hier als ganzen Abschnitt gefunden hast, ist für mich von absolut zentraler Bedeutung!






    PS. Ich weiß jetzt nicht, ob ich Dir diesen Text schon geschickt habe. Irgendwie erscheint die Meldung: Ihr Kommentar wird nach Freigabe sichtbar.

    AntwortenLöschen
  6. "Doch dies ist eben nur der sich stark geltend machende Schatten seiner lichtdurchwobenen,
    warm in die Welterscheinungen untertauchenden Wirklichkeit."

    Es ist schwer, diesen Schatten
    zu durch - schauen.

    AntwortenLöschen
  7. Er bleibt Schatten, wenn ich den Schatten durch-schauen will.
    Er wird «licht» wenn ich Licht hinzuführe und was ist Licht?

    AntwortenLöschen
  8. Stimmt auch. ---

    Stimmt auch, dass der Glaube an das Licht hinter dem Schatten mir beim Durch - Schauen hilft.

    AntwortenLöschen
  9. Wann immer Du etwas durchschaust, hat sich ein Licht entzündet. Es funkt! Und das ist wissenschaftlich sogar beweisbar. Jetzt braucht sie nur noch zum Altar gebracht zu werden ...

    AntwortenLöschen