31/12/2009

Verse auf ein kleines Kind



Dir wachsen die rosigen Füße,
Die Sonnenländer zu suchen:
Die Sonnenländer sind offen!
An schweigenden Wipfeln blieb dort
Die Luft der Jahrtausende hangen,
Die unerschöpflichen Meere
Sind immer noch, immer noch da.
Am Rande des ewigen Waldes
Willst du aus der hölzernen Schale
Die Milch mit der Unke dann teilen?
Das wird eine fröhliche Mahlzeit,
Fast fallen die Sterne hinein!
Am Rande des ewigen Meeres
Schnell findest du einen Gespielen:
Den freundlichen guten Delphin.
Er springt dir ans Trockne entgegen,
Und bleibt er auch manchmal aus,
So stillen die ewigen Winde
Dir bald die aufquellenden Tränen.
Es sind in den Sonnenländern
Die alten, erhabenen Zeiten
Für immer noch, immer noch da!
Die Sonne mit heimlicher Kraft,
Sie formt dir die rosigen Füße,
Ihr ewiges Land zu betreten.


Hugo von Hofmannsthal 



*

29/12/2009

Die Beichte

                                                                              
Hier schreit' ich über meinem Grabe nun -
Hei Hutten, willst du deine Beichte tun?

 's ist Christenbrauch. Ich schlage mir die Brust.
Wer ist ein Mensch und ist nicht schuldbewusst?

 Mich reut mein allzuspät erkanntes Amt!
Mich reut, dass mir zu schwach das Herz geflammt!

 Mich reut, dass ich in meine Fehden trat -
Mit schärfren Streichen nicht und kühnrer Tat!

 Mich reut die Stunde, die nicht Harnisch trug!
Mich reut der Tag, der keine Wunde schlug!

 Mich reut - ich streu' mir Aschen auf das Haupt -
Dass nicht ich fester noch an Sieg geglaubt!

 Mich reut, dass ich nur einmal bin gebannt!
Mich reut, dass oft ich Menschenfurcht gekannt!

 Mich reut - ich beicht' es mit zerknirschtem Sinn -
Dass nicht ich Hutten stets gewesen bin!

 Conrad Ferdinand Meyer: Huttens letzte Tage
 


 

28/12/2009

"Denn was ist denn eigentlich ein Stern?"

 

"Man kommt überhaupt allmählich,
wenn man im Ätherischen immer weiter geht,
aus dem Raum ganz hinaus in jene Sphären,
wo die Götter leben.
Und jetzt stellen Sie sich ganz lebhaft vor
eine seelische Beziehung von Mensch zu Mensch,
die sich körperlich auslebt.
Drastisch ausgedrückt, stellen Sie sich vor,
Sie werden von einem Menschen geliebt;
der streichelt Sie, Sie spüren das Streicheln.
Es wäre kindisch, wenn Sie sich vorstellen würden,
an der Stelle, wo die Streichelströme gehen,
da sei, wenn Sie nicht hinschauen, physische Materie.
Sie werden gar nicht angestrichen mit physischer Materie,
es ist ein Vorgang da,
und das, was das Wesentliche ist,
ist eine Seelenempfindung,
die des Streichelns.
So ist es, wenn wir hinausschauen in die Äthersphären.
Die Götter in ihrer Liebe streicheln gewissermaßen die Welt.
Es ist ein ganz ordentlicher Vergleich:
sie liebkosen die Welt, sie berühren sie an gewissen Stellen;
nur dauert dieses Berühren sehr lange,
weil die Götter dauernd sind.
Aber dieser Ausdruck der Liebe im Äther,
das sind die Sterne.
Das sind sie wirklich; da ist gar nichts Physisches.
Und einen Stern sehen heißt kosmisch dasselbe,
wie eine Berührung,
die aus der Liebe der Menschen hervorgegangen ist, verspüren.
So verspüren wir die Liebe der göttlich-geistigen Wesenheiten,
indem wir zu den Sternen aufsehen.
Wir müssen uns damit bekanntmachen,
dass die Sterne nur Zeichen sind
für die Anwesenheit der Götter im Weltenall."

Rudolf Steiner:
Esoterische Betrachtungen karmischer Zusammenhänge, Band 5 
Breslau, 8. Juni 1924

27/12/2009

Er-Füllung 1


Licht
das 
erwärmet
die armen Hirtenherzen

geist-reich



Die Aufmerksamkeit
besteht darin,
das Denken auszusetzen,
den Geist verfügbar,
leer
und für den Gegenstand offen zuhalten,
die verschiedenen bereits erworbenen Kenntnisse,
die man zu benutzen genötigt ist,
in sich dem Geist zwar nahe und erreichbar,
doch auf einer tieferen Stufe zu erhalten,
ohne dass sie ihn berührten.
Der Geist soll hinsichtlich aller besonderen
und schon ausgeformten Gedanken
einem Menschen auf einem Berge gleichen,
der vor sich hinblickt und gleichzeitig unter sich,
doch ohne hinzublicken,
viele Wälder und Ebenen bemerkt.
Und vor allem soll der Geist leer sein,
wartend,
nichts suchend,
aber bereit,
den Gegenstand,
der in ihn eingehen wird,
in seiner nackten Wahrheit aufzunehmen.


Simone Weil








26/12/2009

stein




werf ich den ersten stein

hock ich im steinhaus
soll nicht mit stein werfen
bin doch ein steinwerfer geboren
steingeburt
steinschleuderbegabt
steinbereit
im steinturm
steinwurfweitweg

weint stein


*

25/12/2009

zwischen Ochs und Esulein







Kaschubisches Weihnachtslied

Wärst du, Kindchen, im Kaschubenlande,
wärst du, Kindchen, doch bei uns geboren!
Sieh, du hättest nicht auf Heu gelegen,
wärst auf Daunen weich gebettet worden.

Nimmer wärst du in den Stall gekommen,
dicht am Ofen stünde warm dein Bettchen,
der Herr Pfarrer käme selbst gelaufen,
dich und deine Mutter zu verehren.

Kindchen, wie wir dich gekleidet hätten!
Müsstest eine Schaffellmütze tragen,
blauen Mantel von kaschubischem Tuche,
pelzgefüttert und mit Bänderschleifen.

Hätten dir den eig'nen Gurt gegeben,
rote Schuhchen für die kleinen Füße,
fest und blank mit Nägelchen beschlagen!
Kindchen, wie wir dich gekleidet hätten!

Kindchen, wie wir dich gefüttert hätten,
früh am Morgen weißes Brot mit Honig,
frische Butter, wunderweiches Schmorfleisch,
mittags Gerstengrütze, gelbe Tunke,

Gänsefleisch und Kuttelfleck mit Ingwer,
fette Wurst und goldnen Eierkuchen,
Krug um Krug das starke Bier aus Putzig!
Kindchen, wie wir dich gefüttert hätten!

Und wie wir das Herz dir schenken wollten!
Sieh, wir wären alle fromm geworden,
alle Knie würden sich dir beugen,
alle Füße Himmelswege gehen.

Niemals würde eine Scheune brennen,
sonntags nie ein trunkner Schädel bluten,
wärst du, Kindchen, im Kaschubenlande
wärst du, Kindchen, doch bei uns geboren!

Werner Bergengruen

24/12/2009

Gottesdienst



Während der Predigt schlief ich.
Ich träumte von Christus. Der ging
vor zur Kanzel und zog
eine Säge unter dem Mantel hervor,
prüfte die Schärfe und sägte,
wie Tischler sägen, die hölzerne
Säule durch, die den Prediger stützte.


Hans Arnfried Astel

                                                          

WEIHNACHTEN. DAS WAR KNAPP:


 Und wenn dann die Seele das findet,
was sie mit ihrer Wesenheit notwendig verbunden wissen muss,
wozu sie aber die Kraft nicht in sich selber findet,
wenn dann die Seele das findet,
was ihr diese Kräfte gibt,
dann ist dieses Gefundene der Christus.

Und des Menschen Weg durch die Erdenentwickelung
wird weiter so sein,
dass, indem der Mensch den Christus
immer mehr und mehr aufnehmen wird,
er in sich entdecken wird dasjenige, 
was in ihm über den Tod hinaus lieben kann;
das heißt, dass er als unsterbliche Individualität
seinem Gott gegenüberstehen kann.

Die Liebe aber wurde gegeben,
indem der Gott Mensch geworden ist
in dem Christus Jesus.
Und die Bürgschaft,
dass wir über den Tod hinaus lieben können,
dass eine Liebesgemeinschaft gestiftet werden kann
durch die wiedergewonnenen Kräfte unserer Seele
zwischen dem Menschen und Gott und allen Menschen untereinander,
die Bürgschaft dafür geht von dem Mysterium von Golgatha aus.

Rudolf Steiner, GA 155, 12.7.1914, Norrköping

ohne Worte


Weihnachtslied

Eine Streu von Stroh
Eine Wand von Wind
Eine Woge als Wiege
Ein Kind

Ein Schwamm voll Essig
Eine Kammer voll Gas
Eine Waage am Wege
Eine Grube im Gras

Eine Gasse voll Dirnen
Eine Gosse voll Wut
Eine Stirne voll Dornen
Eine Mutter voll Blut

Eine Streu von Stroh
Eine Wand von Wind
Eine Woge als Wiege
Ein Kind

Erich Fried

23/12/2009

23



der hirt ist mein schäflein:
es wird ihm nicht mangeln

der hirt ist mein schäflein:
es wird mich weiden

der hirt ist mein schäflein:
es wird mir nicht mangeln

ICH BIN: der hirte



*



22/12/2009

Das ist der neue Weihnachtsgedanke

Wende dich hin,
o Christ, zu dem Weihnachtsgedanken
- so redet das neue Christentum -
und bringe dar auf dem Altare,
der zu Weihnacht aufgerichtet wird,
alles dasjenige,
was du an Menschendifferenzierung
empfängst aus dem Blute heraus,
und heilige deine Fähigkeiten,
heilige deine Begabungen,
heilige selbst dein Genie,
indem du es beleuchtet siehst
von dem Lichte,
das von dem Weihnachtsbaum ausgeht. (...)
Denn das Kind,
an dessen Geburt wir uns
in der Weihnachtsnacht erinnern,
verkündet
- den Menschen
in ihrer Entwickelung
durch die Weltgeschichte
immer neue Gedanken offenbarend -
klar und deutlich,
dass in das Licht des Christus,
der durchseelt hat dieses Kind,
gerückt werden muss dasjenige,
was wir an uns
differenzierenden Begabungen
tragen,
dass auf dem Altare dieses Kindes
dargebracht werden muss dasjenige,
was diese verschiedenen Begabungen
aus uns Menschen machen.

Rudolf Steiner, 22.12.1918, Basel, GA 187

21/12/2009

Ich sehe rot.



Wir nehmen einfach an, dass wir unseren Blick auf eine gleichmäßig in stark zinnobrigem Rot leuchtende Farbfläche richten, und wir nehmen ferner an, dass wir dazu gelangen, alles übrige, das um uns herum ist, zu vergessen, uns zu konzentrieren ganz auf das Erleben dieser Farbe, so dass wir diese Farbe nicht bloß als etwas vor uns haben, das auf uns wirkt, sondern so, dass wir diese Farbe als etwas haben, worin wir selber sind, dass wir eins werden mit dieser Farbe. Wir werden dann gleichsam die Empfindung haben können: Du bist jetzt in der Welt, du bist selbst in dieser Welt ganz Farbe geworden, das Innerste deines Seelenwesens ist ganz Farbe geworden, wo du auch hinkommen magst in der Welt mit deiner Seele, wirst du als roterfüllte Seele hinkommen, du wirst überall in Rot, mit Rot, aus Rot leben.- Dies aber wird man bei intensivem Seelenleben nicht erleben können, ohne dass die entsprechende Empfindung übergeht in ein moralisches Erleben.
Wenn man gleichsam die Welt durchschwimmt als Rot, identisch geworden ist mit dem Rot, wenn einem also selbst die Seele und auch die Welt ganz rot ist, so wird man nicht umhin können, in dieser rot gewordenen Welt, mit der man selber rot ist, zu empfinden, als wenn diese ganze Welt im Rot zugleich uns durchsetzt mit der Substanz des göttlichen Zornes, der uns von allen Seiten entgegen strahlt für alles dasjenige, was an Möglichkeiten des Bösen und der Sünde in uns ist.
Wir werden uns gleichsam in dem unendlichen roten Raum wie in einem Strafgerichte Gottes empfinden können, und unser moralisches Empfinden wird wie eine moralische Empfindung unserer Seele im ganzen unendlichen Raum sein können. Und wenn dann die Reaktion kommt, wenn irgend etwas auftaucht in unserer Seele, wenn wir uns also im unendlichen Rot erleben, ich könnte auch sagen, im einzigen Rot erleben, so kann es nur so sein, dass man es bezeichnen möchte mit dem Worte: 
Man lernt beten. 
Wenn man im Rot erleben kann das Erstrahlen und Erglühen des göttlichen Zornes mit allem, was an Möglichkeiten des Bösen in der menschlichen Seele liegen kann, und wenn man dann im Rot erfahren kann, wie man beten lernt, dann ist das Erleben mit dem Rot unendlich vertieft.

Rudolf Steiner, GA 275,
1.1.1915

20/12/2009

Wort-Ost

Fern im Osten wird es helle,
Graue Zeiten werden jung;
Aus der lichten Farbenquelle
einen langen tiefen Trunk!
Alter Sehnsucht heilige Gewährung,
Süßer Lieb’ in göttlicher Verklärung.

Endlich kommt zur Erde nieder
Aller Himmel sel’ges Kind,
Schaffend im Gesang weht wieder
Um die Erde Lebenswind,
Weht zu neuen, ewig lichten Flammen
Längst verstiebte Funken hier zusammen.

Überall entspringt aus Grüften
Neues Leben, neues Blut;
Ew’gen Frieden uns zu stiften,
Taucht er in die Lebensflut;
Steht mit vollen Händen in der Mitte,
Liebevoll gewärtig jeder Bitte.

Novalis





*

19/12/2009

vorgeburtlich



Da ich noch nicht geboren war,
da bist du mir geboren
und hast dich mir zu eigen gar,
eh' ich dich kannt', erkoren.
Eh' ich durch deine Hand gemacht,
da hast du schon bei dir bedacht,
wie du mein wolltest werden.

Paul Gerhardt

 






*

18/12/2009

in memoriam: David Foster Wallace


Zu tragen Geisteslicht in Weltenwinternacht
Erstrebet selig meines Herzens Trieb,
Dass leuchtend Seelenkeime
In Weltengründen wurzeln,
Und Gotteswort im Sinnesdunkel
Verklärend alles Sein durchtönt.



Rudolf Steiner
Anthroposophischer Seelenkalender
37. Wochenspruch

17/12/2009

Frohgedanken



Wiegenlied

Schlaf, mein Sohn, die Kerz ist nieder,
Alles still, verkrochen Maus.
Stunde hin und Stunde wieder
Geht der Wächter um das Haus.

Schlaf, mein Sohn, den Daum im Munde,
Daum im Munde - Mutter singt.
Weit in Runde laufen Hunde.
Vogel im Ring - Mutter singt.

Schlaf, mein Sohn, im Bett schon liegen
Alle Jungens dick und still.
An dem Berg noch schwingen Wiegen,
Doch am Meer stehn sie schon still.

Schlaf, mein Sohn, die Kerz ist nieder,
Alles still, verkrochen Maus.
Stunde hin und Stunde wieder
Geht der Wächter um das Haus.

Georg von der Vring


*

...sondern erlöse uns von der Egge...


»Die Egge?« fragte der Reisende.
»Ja, die Egge«, sagte der Offizier, »der Name passt. Die Nadeln sind eggenartig angeordnet, auch wird das Ganze wie eine Egge geführt, wenn auch bloß auf einem Platz und viel kunstgemäßer. Sie werden es übrigens gleich verstehen. (...) Dieser Egge aber ist die eigentliche Ausführung des Urteils überlassen. (...) Unser Urteil klingt nicht streng. Dem Verurteilten wird das Gebot, das er übertreten hat, mit der Egge auf den Leib geschrieben." (...)
»Kennt er sein Urteil?« »Nein«, sagte der Offizier und wollte gleich in seinen Erklärungen fortfahren, aber der Reisende unterbrach ihn: »Er kennt sein eigenes Urteil nicht?« »Nein«, sagte der Offizier wieder, stockte dann einen Augenblick, als verlange er vom Reisenden eine nähere Begründung seiner Frage, und sagte dann: »Es wäre nutzlos, es ihm zu verkünden. Er erfährt es ja auf seinem Leib.«(...)
»Wie Sie sehen, entspricht die Egge der Form des Menschen; hier ist die Egge für den Oberkörper, hier sind die Eggen für die Beine. Für den Kopf ist nur dieser kleine Stichel bestimmt. Ist Ihnen das klar?« (...)
"Wenn der Mann auf dem Bett liegt und dieses ins Zittern gebracht ist, wird die Egge auf den Körper gesenkt. Sie stellt sich von selbst so ein, dass sie nur knapp mit den Spitzen den Körper berührt; ist diese Einstellung vollzogen, strafft sich sofort dieses Stahlseil zu einer Stange. Und nun beginnt das Spiel. Ein Nichteingeweihter merkt äußerlich keinen Unterschied in den Strafen. Die Egge scheint gleichförmig zu arbeiten. Zitternd sticht sie ihre Spitzen in den Körper ein, der überdies vom Bett aus zittert. Um es nun jedem zu ermöglichen, die Ausführung des Urteils zu überprüfen, wurde die Egge aus Glas gemacht. Es hat einige technische Schwierigkeiten verursacht, die Nadeln darin zu befestigen, es ist aber nach vielen Versuchen gelungen. Wir haben eben keine Mühe gescheut. Und nun kann jeder durch das Glas sehen, wie sich die Inschrift im Körper vollzieht. Wollen Sie nicht näherkommen und sich die Nadeln ansehen?« (...)
»Nun weiß ich schon alles«, sagte der Reisende, als der Offizier wieder zu ihm zurückkehrte. »Bis auf das Wichtigste«, sagte dieser, ergriff den Reisenden am Arm und zeigte in die Höhe: »Dort im Zeichner ist das Räderwerk, welches die Bewegung der Egge bestimmt, und dieses Räderwerk wird nach der Zeichnung, auf welche das Urteil lautet, angeordnet." (...)
»Ja«, sagte der Offizier, (...) »es ist keine Schönschrift für Schulkinder. Man muss lange darin lesen. Auch Sie würden es schließlich gewiss erkennen. Es darf natürlich keine einfache Schrift sein; sie soll ja nicht sofort töten, sondern durchschnittlich erst in einem Zeitraum von zwölf Stunden; für die sechste Stunde ist der Wendepunkt berechnet. Es müssen also viele, viele Zieraten die eigentliche Schrift umgeben; die wirkliche Schrift umzieht den Leib nur in einem schmalen Gürtel; der übrige Körper ist für Verzierungen bestimmt. Können Sie jetzt die Arbeit der Egge und des ganzen Apparates würdigen? - Sehen Sie doch!«

aus: Franz Kafka: In der Strafkolonie




Johannes 8, 7


*

15/12/2009

Lösung

Korf erfindet eine Art von Witzen,
die erst viele Stunden später wirken.
Jeder hört sie an mit Langerweile.
Doch als hätt ein Zunder still geglommen,
wird man nachts im Bette plötzlich munter,
selig lächelnd wie ein satter Säugling.



Christian Morgenstern 


*

14/12/2009

blühfrost

Blüh auf, gefrorener Christ,
der Mai ist vor der Tür.
Du bleibest ewig tot,
blühest du nicht jetzt und hier.

                                     Angelus Silesius




13/12/2009

meeting point



Der Milchmann

Der Milchmann schrieb auf einen Zettel: "Heute keine Butter mehr, leider."' Frau Blum las den Zettel und rechnete zusammen, schüttelte den Kopf und rechnete noch einmal, dann schrieb sie: "Zwei Liter, 100 Gramm Butter.  Sie hatten gestern keine Butter und berechneten Sie mir gleichwohl."
Am andern Tag schrieb der Milchmann: "Entschuldigung."  Der Milchmann kommt morgens um vier, Frau Blum kennt ihn nicht, man sollte ihn kennen, denkt sie oft, man sollte einmal um vier aufstehen, um ihn kennen zu lernen.
Frau Blum fürchtet, der Milchmann könnte ihr böse sein, der Milchmann könnte schlecht denken von ihr, ihr Topf ist verbeult.
Der Milchmann kennt den verbeulten Topf, es ist der von Frau Blum, sie nimmt meistens 2 Liter und 100 Gramm Butter.  Der Milchmann kennt Frau Blum.  Würde man ihn nach ihr fragen, würde er sagen: „Frau Blum nimmt 2 Liter und 100 Gramm, sie hat einen verbeulten Topf und eine gut lesbare Schrift." Der Milchmann macht sich keine Gedanken.  Frau Blum macht keine Schulden.  Und wenn es vorkommt - es kann ja vorkommen - daß 10 Rappen zu wenig daliegen, dann schreibt er auf einen Zettel: "Zehn Rappen zu wenig." Am andern Tag hat er die 10 Rappen anstandslos und auf dem Zettel steht: "Entschuldigung." 'Nicht der Rede wert' oder 'keine Ursache', denkt dann der Milchmann und würde er es auf den Zettel schreiben, dann wäre das schon ein Briefwechsel.  Er schreibt es nicht.
Den Milchmann interessiert es nicht, in welchem Stock Frau Blum wohnt, der Topf steht unten an der Treppe.  Er macht sich keine Gedanken, wenn er nicht dort steht.  In der ersten Mannschaft spielte einmal ein Blum, den kannte der Milchmann, und der hatte abstehende Ohren.  Vielleicht hat Frau Blum abstehende Ohren.
Milchmänner haben unappetitlich saubere Hände, rosig, plump und verwaschen.  Frau Blum denkt daran, wenn sie seine Zettel sieht.  Hoffentlich hat er die 10 Rappen gefunden.  Frau Blum möchte nicht, daß der Milchmann schlecht von ihr denkt, auch möchte sie nicht, daß er mit der Nachbarin ins Gespräch käme.  Aber niemand kennt den Milchmann, in unserem Quartier niemand.  Bei uns kommt er morgens um vier.  Der Milchmann ist einer von denen, die ihre Pflicht tun. Wer morgens um vier die Milch bringt, tut seine Pflicht, täglich, sonntags und werktags.  Wahrscheinlich sind Milchmänner nicht gut bezahlt und wahrscheinlich fehlt ihnen oft Geld bei der Abrechnung.  Die Milchmänner haben keine Schuld daran, daß die Milch teurer wird.
Und eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennen lernen.
Der Milchmann kennt Frau Blum, sie nimmt 2 Liter und 100 Gramm und hat einen verbeulten Topf.
                                                                                             

Peter Bichsel



12/12/2009

angeengelt

                                         

Die Botschafter

 kommen von weither
    von jenseits der Mauer

       barfuß
          kommen sie
             den weiten Weg

                um dieses Wort abzugeben.
                   Einer steht vor dir
                      in fernen Kleidern

                         er bringt das Wort Ich
                            er breitet die Arme aus
                               er sagt das Wort Ich

                               mit diesem trennenden Wort
                                     eben saht ihr euch an
                                        ist er nicht mehr

                                           geht in dir weiter.

                                                              Hilde Domin




11/12/2009

fang an


    So beginnt 
  Anthroposophie
überall mit Wissenschaft,
belebt ihre Vorstellungen künstlerisch
und endet mit religiöser Vertiefung;
beginnt mit dem, 
was der Kopf erfassen kann,
geht heran an dasjenige,
was im weitesten Umfange 
das Wort gestalten kann,
und endet mit dem,
was das Herz mit Wärme durchtränkt
und das Herz in die Sicherheit führt,
auf das des Menschen Seele 
sich finden könne zu allen Zeiten 
in seiner eigentlichen Heimat,
im Geistesreich.
So sollen wir auf dem Wege der Anthroposophie
ausgehen lernen von der Erkenntnis,
uns erheben zur Kunst
und endigen in religiöser Innigkeit.





Rudolf Steiner, GA 257, 30.1.1923 



*


10/12/2009

small talk

 

"...Gestaltung des menschlichen Karma - ein Gedanke von erschütternder Klarheit; denn er lehrt uns, dass der ganze Kosmos im Dienste des Wirkens der Hierarchien steht im Verhältnisse zum Menschen.
Wozu ist von diesem Gesichtspunkte aus der Kosmos da?
Damit die Götter in dem Kosmos ein Mittel haben, um die erste Form des Karma an den Menschen heranzubringen.
Warum sind Sterne, warum sind Wolken? Warum ist Sonne und Mond? Warum sind Tiere der Erde? Warum sind Pflanzen der Erde? Warum sind Steine der Erde? Warum sind Flüsse und Bäche und Ströme? Warum ist Fels und Berg? Warum ist alles das, was im Kosmos um uns herum ist?
Das alles ist Vorrat für die Götter, um uns die erste Form unseres Karma, je nachdem wir unsere Taten verrichtet haben, vor Augen zu führen. Welt ist die Vorratskammer für die Demonstrationen im Karma von seiten der Götter." 

Rudolf Steiner: Esoterische Betrachtungen karmischer Zusammenhänge, Band 2, 22. Juni 1924