04/02/2010

vor - schau


die alphabete gibt es

den regen der alphabete

den regen der rieselt

die gnade das licht

zwischenräume und formen
der sterne der steine

den lauf der flüsse
und die bewegungen des gemüts

die spuren der tiere
ihre straßen und wege

den bau der nester
den trost von menschen

tageslicht in der luft
das zeichen des mäusebussards

das zusammensein der sonne
und des auges in der farbe

die wilde kamille
an den schwellen der häuser

den schneehaufen den wind
die hausecke den sperling

ich schreibe wie der wind
der mit der ruhigen schrift
der wolken schreibt

oder schnell über den himmel
in verschwindenden strichen
wie mit schwalben

ich schreibe wie der wind
der stilisiert monoton
ins wasser schreibt

oder rolle mit dem schweren
alphabet der wellen
ihre schaumfäden

schreibe in die luft
wie die pflanzen schreiben
mit stielen und blättern

oder rund wie mit blumen
in kreisen und büscheln
mit punkten und fäden

ich schreibe wie der strand
einen saum schreibt
aus schaltieren und tang

oder fein wie mit perlmutt
die füße des seesterns
und der schleim der muschel

ich schreibe wie das frühe
frühjahr das das gemeinsame
alphabet der anemonen
der buche des veilchens und
des sauerklees schreibt

ich schreibe wie der kindliche
sommer wie donner
über den kuppeln des waldrands
wie weißgold wenn der blitz
und das weizenfeld reifen

ich schreibe wie ein vom tode gezeichneter
herbst schreibt
wie rastlose hoffnungen
wie lichtstürme quer
durch nebelhafte erinnerung

ich schreibe wie der winter
schreibe wie der schnee
und das eis und die kälte
und das dunkel und der tod
schreiben

ich schreibe wie das herz
das klopft schreibt
das schweigen des skeletts
und der nägel der zähne
des haars und des schädels

ich schreibe wie das herz
das klopft schreibt
das flüstern der hände
der füße der lippen
der haut und des geschlechts

ich schreibe wie das herz
das klopft schreibt
die geräusche der lungen
der muskeln des gesichts
des gehirns und der nerven

ich schreibe wie das herz
das klopft schreibt
das rufen des bluts
und der zellen der gesichte
des weinens und der zunge


aus „Alfabet“ von Inger Christensen

*

4 Kommentare:

  1. Und wer schreibt?
    Und wer hat die Idee?
    Und wer fühlt den Drang sie zu verwirklichen?

    Wer bin ich?

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  2. Liebe MonikaMaria,
    ich bin die, die immer so früh ihre posts einstellt, weil dieses Kind neben meinem Bett den Drang hat, mit seiner und meiner Verwirklichung schon kurz vor fünf am Morgen anzufangen. Ein Weilchen verwirklichen wir uns dann noch mit Kuscheln und Erzählen, dann aber geht es ans wirkliche Verwirklichen.
    Die bin ich.
    Ein ähnliches Eigenleben spielen auch die Beiträge in diesem blog, die ich aufschreibe und zusammenstelle. Oft sammeln sie sich so von Samstag nachmittag an über den Sonntag im Blick auf die dann folgende Woche. Ich plane, aber sie (ich? wer?) rücken sich mit eigenem Impuls an die jeweilige Stelle. Und ich kann nicht immer gut aushalten, dass ein post, den ich parat habe, einfach noch warten muss, bis seine Zeit gekommen ist.
    Die bin ich...
    ...wir hören uns morgen...

    Stefanie

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  3. Oh, das kenne ich gut.
    Ich freue mich ....
    auf weitere «Geduld».
    Bedachtsamkeit sitzt an der richtigen Stelle ...

    Grüß Dich lieb ...

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  4. Wieder wunderschön!

    Nicht nur Inger Christensen, sondern auch die Foto-Tapete. Erinnert mich irgendwie an ein Poster, das ich in meiner Jugend an eine Tür gepinnt hatte, während meiner Gärtnerlehre. Ich hatte es aus Holland, nein, inkorrekt, den Niederlanden, und es zeigte alle mir damals bekannten Zimmerpflanzen.

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