28/02/2010

glaub ich - nicht / Nr. 1

"Eine Weltanschauung, 
die uns wahrhaft befriedigen soll,
muss uns wirklich von der Stelle im Weltall,
wo wir ohne sie stehen,
wegbringen,
sie muss uns in absolute Bewegung versetzen.
Wir müssen durch sie 
nicht bloß Aufschluss darüber erhalten,
was wir sind,
sondern wir müssen 
etwas durch sie werden."

Rudolf Steiner, GA 39, S. 132

Kurz bevor heute der Sturm aufkam, habe ich dieses Foto aufgenommen. Wenn ich von meinem Schreibtisch aus nach links sehe, ist das der Blick. Im Vordergrund auf dem nicht sichtbaren Balkongeländer steht ein fast würfelförmiger Granitstein, auf dem ein länglicher Stein, auch aus Granit, aufliegt. 
Gegenüber in Richtung Norden steht, liegt, hockt ein Berg.
Nur schwach auf dem Bild zu sehen sind die drei Strommaste, die auf dem Berg stehen. Eine schmale Schneise zieht einen Längsstrich durch die Südseite des Berges. Ein Weg deutet eine horizontale Linie an, die die vertikale kreuzt.
Ich möchte diesen Berg, der seit fast dreizehn Jahren in meiner Sicht ist, in Bewegung versetzen.

Morgenlied



Wer sitzt unter den Zweigen,
kommt die Sonne gerollt;
und will uns zeigen
Silber und Gold?

Einer, der schweigt
aus vielen Weiten.
Einer, der sich verneigt
nach allen Seiten.

Einer, der den Wind treibt,
Der bläst lang und breit.
Und einer, der aufschreibt
unser Herzeleid.

Jesse Thoor




*

27/02/2010

Einladung



Lieber Gott
du bist doch
auch nur ein Mensch
komm mal runter
es ist noch Suppe da
nimm Platz
und Obst gibt’s auch
schön ist die Welt
nur manchmal nicht
es ist gerichtet
komm sei so frei




*

26/02/2010

Bodenpersonal


skandalon




Schlimmer hätte es kaum kommen können
Erst verschwanden die Silberlöffel
Dann fiel das Familienbild von der Wand
Dann regnete es durchs Dach auf den Großvater
Dann vergaß Amalie sich mit dem Chauffeur
Dann fanden wir die Klavierlehrerin
stocksteif unterm Konzertflügel
Dann ruckelte das Auto und blieb stehen
Die Spielzeugeisenbahn entgleiste
Die Hühner machten ihren letzten Mucks
Alle Glühbirnen zerplatzten
Jemand fing an Posaune zu blasen
Das ging nun wirklich zu weit


Alfred Brendel

25/02/2010

durchGänger

 

Ich springe.
Springe,
Befreit von den Steinen
Nachhaus.

Niemals
Und nie
Und nimmer
Wär ich mit ihnen
Durchs Nadelöhr gekommen.

Sie sind, Gott lob,
In die Tiefe des Brunnens
Geplumpst.

Nun bin ich frei,
Erleichtert,
Ein Mensch im Glück.

Was nur alles
Sollte ich tun
Mit den Steinen,
Links einen, rechts einen
Und dazwischen 
Den Kopf!

Nun bin ich sie los,
Bin los und ledig,
Ohne Haus, ohne Hof,
Ohne Weib, ohne Kind,
Ich ganz allein.

Lass fahren dahin!
Pferd und Knecht,
Magd und Vieh,
Kuh, Schwein und Gans
Und den Klumpen von Gold,
So groß wie mein Kopf.
Und nichts im Kopf
Als Gold.

Alles dahin!
Alles, was mein ist,
Dahin!
Der Rest bin
Ich selbst,
Hans im Glück.

Wie Lazarus
Im Hause der Armut.
Da ging er durchs Nadelöhr.


Günther Lange


*

Bitte




Ich will verziehen bekommen.
Meinen Leichtsinn, meine Worte, mein Schweigen.
Und auch die Abende, an denen ich nicht kam,
und dass jetzt wo du ausbleibst,
dein Preis in die Höhe schnellt.
Ich verzeihe mir die Verse im voraus,
und dir deinen Leichtsinn, deine Worte, dein Schweigen,
und auch die Abende, an denen du nicht kommen wirst.
Wenn wir nur, ein für allemal,
einander reinen Wein einschenken
und das Brot brechen für die Sterbezeit,
denn der Kelch, den wir trinken müssen,
ist noch nicht ganz gefüllt
und geht auch nicht vorüber.

Andreas Laudert





°

24/02/2010

Sitzstreik




Der Buddha nimmt die Beine in die Hand.
Der Eilbote zockelt hinterdrein.
Die Fixsterne wallen.
Der Fortschritt zappelt in der Warteschleife.
Die Schnecke verrennt sich.
Die Rakete hinkt.
Die Ewigkeit setzt zum Endspurt an.

Ich rühre mich nicht.







Hans Magnus Enzensberger, 1995




23/02/2010

hab 8


für Margot Käßmann und andere



Obwohl du Margot heißt, muss ich dich preisen.
Gewöhnlich sind die Margot, Gerda, Ellen
Mir allzu linienhaft zum Beigesellen
und zu empfindsam, um damit zu reisen.

Verlieb ich mich schon in ein Mädchen sterblich,
So heiß' es Trude, Miezl, Käthi, Annchen.
Die Namen Margot, Ingrid und noch manchen
Find zu ästhetisch ich, zu kunstgewerblich.

Man redet Liebe, küsst sich mit den Psychen
bei Helga, Irmgard, Edith und Elfriede.
Du bist, mein Schatz, fürs Körperlich-Solide,
und darum, Margot, nenn' ich dich Mariechen.

Erich Mühsam

erScheinung

s
i
e
 
s
c
h
m
i
l
z
t

 
d
a
h
i
n


beobAchtung



Sehen Sie, so sonderbar das klingt, 
wenn wir die Mitte unseres Lebens 
zwischen Tod und einer neuen Geburt durchschritten haben (...), 
dann richtet sich das innere Erleben der Seele
in der geistigen Welt 
vor allen Dingen hinunter auf die Erde. 
Und man bekommt, wenn man nach dieser Mitte lebt, 
von der Erde herauf immer mehr Eindrücke von dem, 
was da unten getrieben wird, 
von dem,
was die Menschen da unten denken und fühlen; 
und es ist für jede Seele so, 
dass sie ganz bestimmte Eindrücke bekommt. 
So zum Beispiel kann eine Seele sich hereinleben 
in der zweiten Hälfte des geistigen Lebens 
ihrer neuen Geburt entgegen, 
und immer mehr und mehr schaut sie da unten jene Menschen, 
die, sagen wir, da unten das spätere Zeitalter vorbereiten: 
die geistig wirksamen Menschen. 
Einzelne von diesen geistig wirksamen Menschen 
werden der Seele ganz besonders wertvoll. 
Ja, es kommt vor, dass man von der geistigen Welt aus 
auf eine oder zwei Gestalten, die auf der Erde sich betätigen, 
ganz besonders herabsieht. (...) 
Das ist eines, was man da erlebt: 
dass man herunterschaut auf die Menschen, 
die da unten sich entwickeln. 
Aber indem man da herunterschaut, 
beeinflusst man diese Menschen auch, 
doch nicht so, 
dass dadurch die Freiheit beeinträchtigt würde; 
man beeinflusst sie so, 
dass gewisse Dinge, die in ihrer Seele leben, 
leichter in ihrer Seele auftauchen dadurch, 
dass von der geistigen Welt aus 
irgendeine Seele auf sie herunterblickt. 
So werden Erdenmenschen zum Schaffen, 
zur Tätigkeit angeregt durch Seelen, 
welche erst später als diese Erdenmenschen geboren werden 
und auf sie herunterschauen. 
In weiteren und auch in intimeren Angelegenheiten 
kann das der Fall sein.

Rudolf Steiner, GA 140, 11.10.1913

22/02/2010

Drei Briefe...




"Nicht oft habe ich unter Menschen soviel Not, Missverständnisse und Konflikte angetroffen, wie es in den vergangenen Wochen immer wieder auftrat. Da fühle ich deutlich den Boden wanken und die Grenzen schwinden, die ich bisher für gültig hielt. Unvereinbare Gegensätze treffen da aufeinander, ohne Vermittlung, ohne Liebe. Im Umgehen mit der Versuchungsgeschichte - Matthäus 4 - finde ich solche Schroffheiten wie Steine in der Wüste und das lebendige Wort, das Kraft spendet wie Brot, weil es das Schöpferwort selbst ist. Oder die Höhe der Tempelzinne und die Tiefe des Fallenkönnens, die unvermittelt die Schwerkraft aufhebt aus der Ätherwelt des Engelwirkens. Die Bergeshöhe mit dem Ausblick auf die Reiche der Welt in ihrer Schönheit und ihrem verführerischen Reichtum der Kräfte, wie sie auf die Seele wirken und in ihr Machtgelüste wecken. In alle diese Widersprüche und irdischen Ungereimtheiten zieht der Christus ein. Er gibt sich selbst hin und erbildet ein Dazwischen, eine lebendig-atmende Mitte, eine Menschensphäre, in der der Widersacher kein Heimatrecht hat. Seitdem der Christus die Versuchung verwandelt hat durch das Menschliche, wo sie sich aufhebt und wo sie weichen muss, ist damit im Menschen ein unversieglicher Quell aufgetan, an dem wir Mut und Kraft schöpfen dürfen. Es ist ein Quell der Liebe zu allen Wesen, und ein Quell des Lebens, der wachsen wird. Der Lichtquell stärkt die Einsicht in das ohnmächtige und nur scheinbar mächtige Wirken der Widersacher und ihre Technik des Erfolges."



...bekam ich heute.

Appell

Geh nicht als ein Erlöschender
Geh nicht als ein Erlöschender
Geh nicht als ein Erlöschender
in das Erlöschen

Brenne
Brenne
Wir sind Fackeln mein Bruder
Wir sind Sterne
Wir sind Brennendes
Steigendes
Oder wir sind nicht
gewesen

Hilde Domin
gestorben am 22. Februar 2006

21/02/2010

comeback

 
David Foster Wallace, 
geboren am 21.2.1962

wieder kommst du
im rückspiegel seh ich dich
vier sitzen
auf drei stühlen
mein puls schlägt
schneller
tauchst auf
im augenwinkel
meiner sichtweise
zwei und du
drei und du
wir und du
ich hab nicht
auf dich gewartet
oder
doch
das
weiß
ich
nicht
mehr
warst mir
nicht
im sinn
vergraben
hatte ich dich
mit leib und seele
du realo
du fundi
ich hab dich
wirklich gefunden
mensch

Stefanie Rabenschlag


20/02/2010

"................"

So sieht es aus, 
wenn man bei uns Richtung Norden aus dem Fenster sieht.

zeitLos



Die Uhrsache

Die Rathausuhr geht unentwegt,
und immer scheint sie aufgeregt,
weil - ist sie auch schon hochbetagt,
sie innerlich die Unruh plagt ---
was sich auf uns dann überträgt...

Heinz Erhardt
geboren am 20. Februar 1909

19/02/2010

einGang



bisweilen geschieht es
       wenn der schnee geschmolzen ist
              dass alles was er verbarg
                zum vorschein kommt so dass man die seele sehen kann

so wie der tod erst
       richtig sichtbar wird
              wenn jemand das geschenk betrachtet
                     das der tote mit ins grab bekommen hat

es ähnelt glaube ich
       der schachtel aus angelaufnem metall
              die ich wie ich lange gewusst
                     habe mitbringe

sie enthält überhaupt
       nichts anderes als eine münze
              einen silbernen fingerhut
                     einen zahn und eine kleine leere flasche

doch ihr duft wenn
       man sie öffnet
              erfüllt alles
                     wie die sonne um mitternacht

so habe ich mir die
       vorstellungskraft wie
              einen klaren kristallraum gedacht
                     der das sterbelager umschließt

wo der tote erst richtig
              sich selbst ähnelt
                     indem er den anderen wegstirbt


                                            aus "Alfabet" von Inger Christensen




Collage unter Verwendung einer Plastik von Cornelia Wagner



17/02/2010

Freund Heine



Doktrin

Schlage die Trommel und fürchte dich nicht,
Und küsse die Marketenderin!
Das ist die ganze Wissenschaft,
Das ist der Bücher tiefster Sinn.

Trommle die Leute aus dem Schlaf,
Trommle Reveille mit Jugendkraft,
Marschiere trommelnd immer voran,
Das ist die ganze Wissenschaft.

Das ist die Hegelsche Philosophie,
Das ist der Bücher tiefster Sinn!
Ich hab sie begriffen, weil ich gescheit,
Und weil ich ein guter Tambour bin.

Heinrich Heine 
gestorben am 17. Februar 1856 in Paris 



16/02/2010

Tierkreisspruch für die Faschingszeit


Die Wasserfrau sitzt an der Quelle
und rührt sich kaum von dieser Stelle
auf einem Stein am warmen Strand,
wo kürzlich noch ein Steinbock stand,
der, des Ertragens müde, rief:
"Aquaria, da kommt ein Schiff!"
Nun hausen beide auf dem Floß
ganz unbegrenzt und grenzenlos.


*




fastNacht




Wir turnen in höchsten Höhen herum, 
selbstredend und selbstreimend, 
von einem I n d i v i d u u m 
aus nichts als Worten träumend.

Was uns bewegt - warum? wozu? - 
den Teppich zu verlassen? 
Ein nie erforschtes Who-is-who 
im Sturzflug zu erfassen.

Wer von so hoch zu Boden blickt, 
der sieht nur Verarmtes / Verirrtes. 
Ich sage: wer Lyrik schreibt, ist verrückt, 
wer sie für wahr nimmt, wird es.

Ich spiel mit meinem Astralleib Klavier, 
v i e r f ü ß i g - vierzigzehig - 
Ganz unten am Boden gelten wir 
für nicht mehr ganz zurechnungsfähig.

Die Loreley entblößt ihr Haar 
am umgekippten Rheine ... 
Ich schwebe graziös in Lebensgefahr 
grad zwischen Freund Hein und Freund Heine.

Peter Rühmkorf




15/02/2010

RosenMontag

Ich habe keine Lehre. 
Ich zeige nur etwas.
Ich zeige Wirklichkeit, 
ich zeige etwas an der Wirklichkeit, 
was nicht oder zu wenig gesehen worden ist.
Ich nehme ihn, der mir zuhört, 
an der Hand und führe ihn zum Fenster. 
Ich stoße das Fenster auf und zeige hinaus. 
Ich habe keine Lehre, 
 aber ich führe ein Gespräch.

Martin Buber

12/02/2010

blauLicht



Sternbild des Kindes

Er kam von weit
und sagte, er sah
Männer reden mit Bäumen.

Zu beiden Seiten des Stroms
gingen die Wälder tagreisenlang
ins verschneite Land,
und es zeigte sich abends
der heimische Gott im Gewölk.

Nicht fremd war den Menschen
die Stimme vom anderen Ufer,
allerorts galt der Glaube,
dass im Sternbild des Kinds
eine neue Erde beginne.

Blumenwälder verwüchsen die Grenzen,
von Wurzeln verklammert,
heilte der Abgrund.

Dieses Sternbild aber,
sagte der Mann,
dieses Sternbild gibt es noch nicht.


Erika Burkart


*

11/02/2010

schriftlich





*



Traum



Senna Hoy

Wenn du sprichst,
Wacht mein buntes Herz auf.

Alle Vögel üben sich
Auf deinen Lippen.

Immerblau streut deine Stimme
Über den Weg;

Wo du erzählst, wird Himmel.

Deine Worte sind aus Lied geformt,
Ich traure, wenn du schweigst.

Singen hängt überall an dir - 
Wie du wohl träumen magst?


Else Lasker-Schüler
11.2.1869 - 22.1.1945





10/02/2010

Brief an Karl Valentin

"Man soll die Dinge nicht so tragisch nehmen, wie sie sind", hast du gesagt, Karl. Ich habe ein Problem: Ich nehme die Dinge noch viel tragischer, als sie sind und weiß noch nicht mal, ob das stimmt, vielleicht sind sie ja noch viel tragischer und ich nehme sie immer noch nicht tragisch genug. Gestern, Karl, an deinem 62. Todestag ist eine Frau hier in der Nähe tödlich verunglückt, hat jetzt mit dir gemeinsam ihren Todestag. Was geht mich diese Frau an? Bin ich meiner Schwester Hüterin? Es war ein schwerer dunkler Tag gestern, und da wusste ich ja noch nichts von ihrem Tod, obwohl ich schon beim Frühstück dachte, vielleicht leb' ich ja gar nicht mehr lang, und dann bin ich zum Friedhof gefahren wegen meinem Zahnarzt und so, und um zwei Uhr wollte meine Tochter, dass ich sie unten in der Stadt abhole und um zwanzig nach zwei rief sie nochmal an, ich könne jetzt runterfahren, und dann sind wir zwischen Klosterapotheke und Post beinahe mit dem Einsatzauto zusammengestoßen, das zu dem Unfall fuhr, wie ich jetzt weiß, und alles war schwer gestern, Karl, und heute morgen lese ich in der Zeitung von dieser 48jährigen Frau, die bei diesem Unfall um 14.20 Uhr 62 Jahre nach dir gestorben ist, auf den Tag, Karl, auf den Tag, und weißt du, was das alles bedeutet?!?




spinnt



Es gibt Maler,
die die Sonne in einen gelben Fleck verwandeln.
Es gibt aber andere,
die dank ihrer Kunst und Intelligenz
einen gelben Fleck in die Sonne verwandeln.

Pablo Picasso



*



*o

08/02/2010

gestillt


Paula Modersohn-Becker: Knieende Mutter mit Kind


 
trink meine süße
milch
so spricht die nacht
in meinen dunklen
armen halt ich dich
kein herzschlag
trennt uns
ineinander
atmen wir
stirb dich
in mich hinein
ich stehe
in dir auf

so ist auch tod









Achtzehn Tage nach der Geburt ihrer Tochter starb
Paula Modersohn-Becker, 8.2.1876 - 20.11.1907.



*


07/02/2010

handlungs - weise



Bei seinem Spaziergang durch die Stadt am Sonntagmorgen betrat J. auch die große Kirche am Marktplatz, in der gerade ein Gottesdienst stattfand. Er setzte sich in die hinterste Bankreihe und blickte sich um. Sein Blick fiel auf eine Frau, die in sich zusammengesunken dahockte; abwesend und verloren wirkte sie. J. stand sachte auf und ging zu ihr hin. Hallo, sagte er, und legte zart seine Hand auf ihren Rücken. Sie blickte auf, verwundert, dass er nicht dem Gottesdienst folgte. Komm, es ist vorbei, steh auf, du hast lange ausgehalten, atme, singe, geh mit mir.
Sie legte ihre Hand in seine, und sie gingen miteinander hinaus auf den Platz, wo die Februarsonne ihr drängendes Licht verbreitete.
Später wurde ihm vorgehalten, er habe die Andacht der Gottesdienstbesucher gestört und die Frau davon abgehalten, am Gebet teilzunehmen. J. sagte: Sie war dran nach achtzehn Jahren, die sie ihre Krankheit ertragen hat. Ich tat, was dran war.
Niemand sagte mehr etwas, und die Spaziergänger blickten lächelnd auf das merkwürdige Paar.


Lukasevangelium 13, 10-17 
Freie Übertragung: Stefanie Rabenschlag



06/02/2010

Einladung



Kontemplation

Mein Gott, mein Gott!
Nun stehn
          alle Dinge
          im Rund
          und im Ringe
          von Tag und Stund.
          Sie drehn 
                     sich nicht mehr
                     sie ruhen in dir.
                     Genommen
ins Schauen
                     und angekommen
                     im Bild-losen
                     Sinn-losen
                     Laut-losen
                                Tosen
                     des Himmels in mir,
                     ruh ich in dir.
Mein Gott, mein Gott!


Silja Walter, Benediktinerin, geb. 1919





05/02/2010

Wunsch - Konzert

Ein Mensch möcht´ erste Geige spielen,
jedoch - das ist der Wunsch von vielen,
so dass sie gar nicht jedermann,
selbst wenn er´s könnte, spielen kann.

Auch Bratsche ist für den, der´s kennt,
ein wunderschönes Instrument !

Eugen Roth


Ein Mensch, hier: weiblich, übt seit vielen
und noch mehr Jahren Bratsche spielen.
Doch wo er übt, da zischelt's her:
"Ich weiß, dass Geige schöner wär'!"

Der Mensch, hier: sie, übt wünschend weiter
und singt. - Da staunt der Herr Begleiter.


Stefanie Rabenschlag







04/02/2010

vor - schau


die alphabete gibt es

den regen der alphabete

den regen der rieselt

die gnade das licht

zwischenräume und formen
der sterne der steine

den lauf der flüsse
und die bewegungen des gemüts

die spuren der tiere
ihre straßen und wege

den bau der nester
den trost von menschen

tageslicht in der luft
das zeichen des mäusebussards

das zusammensein der sonne
und des auges in der farbe

die wilde kamille
an den schwellen der häuser

den schneehaufen den wind
die hausecke den sperling

ich schreibe wie der wind
der mit der ruhigen schrift
der wolken schreibt

oder schnell über den himmel
in verschwindenden strichen
wie mit schwalben

ich schreibe wie der wind
der stilisiert monoton
ins wasser schreibt

oder rolle mit dem schweren
alphabet der wellen
ihre schaumfäden

schreibe in die luft
wie die pflanzen schreiben
mit stielen und blättern

oder rund wie mit blumen
in kreisen und büscheln
mit punkten und fäden

ich schreibe wie der strand
einen saum schreibt
aus schaltieren und tang

oder fein wie mit perlmutt
die füße des seesterns
und der schleim der muschel

ich schreibe wie das frühe
frühjahr das das gemeinsame
alphabet der anemonen
der buche des veilchens und
des sauerklees schreibt

ich schreibe wie der kindliche
sommer wie donner
über den kuppeln des waldrands
wie weißgold wenn der blitz
und das weizenfeld reifen

ich schreibe wie ein vom tode gezeichneter
herbst schreibt
wie rastlose hoffnungen
wie lichtstürme quer
durch nebelhafte erinnerung

ich schreibe wie der winter
schreibe wie der schnee
und das eis und die kälte
und das dunkel und der tod
schreiben

ich schreibe wie das herz
das klopft schreibt
das schweigen des skeletts
und der nägel der zähne
des haars und des schädels

ich schreibe wie das herz
das klopft schreibt
das flüstern der hände
der füße der lippen
der haut und des geschlechts

ich schreibe wie das herz
das klopft schreibt
die geräusche der lungen
der muskeln des gesichts
des gehirns und der nerven

ich schreibe wie das herz
das klopft schreibt
das rufen des bluts
und der zellen der gesichte
des weinens und der zunge


aus „Alfabet“ von Inger Christensen

*