Meine sehr verehrten Anwesenden!
Morgen feiern wir Pfingsten.
Das Urbild dieses Festes,
das im Neuen Testament
aus der Apostelgeschichte aufsteigt,
hat ja gleich etwas Begeisterndes:
das wehende, brausende geistige Anwesendsein,
aus dem sich Flammen auf die Häupter,
in die Herzen senken,
die dann aufflammen in das reine,
aus dem freien Ich heraus gesprochenen Menschenwort.
Das hat Atem.
Aber dieser Atem, dieses Licht, diese Befreiung -
sie waren nicht einfach da.
Sie waren als Folge einer allertiefsten Bedrängnis
zustande gekommen.
Die Begeisterung, die Erleuchtung waren das Ergebnis
von Krisis und Katharsis der Jüngerseelen.
Man kann Pfingsten nicht feiern, ohne zu empfinden,
dass dem Heilenden des Geistes etwas vorangehen muss.
Dieser Geist hat zwei Namen:
Er ist der Heilende,
aber auch der Geist der Wahrheit,
das heißt jener gewaltigen Kraft,
die nicht nur aus dem Licht heraus erleuchtet,
sondern in das hineinleuchtet,
was im Dunkel liegt.
Die Jünger waren in den zehn Tagen
vom Himmelfahrtstage bis zum Pfingstmorgen so einsam,
so verlassen und verzweifelt wie nicht einmal da,
als sie bei der Gefangennahme des Christus
zerstreut worden waren.
Denn dem Verlassensein,
das sie nach der Gefangennahme erlebt,
hatten sie noch einen letzten Rest von Vorstellung
entgegenbringen können;
sie hatten das Unbegreifliche, das Unerwartete erlebt,
aber es war doch eine vorstellbare Wirklichkeit gewesen.
Als dann der Heiland durch den Tod hindurch
in die Auferstehung übergegangen war
und nach der Zerstreuung,
nach der Vereinzelung mit einem Male
das gemeinsame geistige Erlebnis
seiner Anwesenheit fortwährend erfahren wurde,
mussten die Menschen meinen:
Nun ist das Paradies auf Erden gekommen
und wird ewig so bleiben.
Es blieb aber nur 40 Tage so.
Und als sie sich dann verlassen fühlten,
indem der Auferstandene die Himmelfahrt vollzog,
wurde durch den Sturz aus dem Paradies dieser "Fortgang"
für sie zu einem viel tieferen Erschütterungserlebnis
als das der Gefangennahme.
Ein trauernd-demütiges Aushaltenkönnen allein
trug sie durch die folgenden zehn Tage.
Dann erst ereignete sich Pfingsten ...
Aus der tiefen Einsamkeit und Verlassenheit
entfaltete sich in jedem einzelnen Jünger
eine innere Bewegung des Geistig-Seelischen,
in welches die Erinnerungen aufstiegen,
die sie mit dem Gotteswesen
in seiner menschlich-irdischen Erscheinung
auf dem irdisch-sinnlichen Plan erlebt hatten.
Alle diese Erinnerungen wurden durchleuchtet
von den Worten,
die Er zu ihnen gesprochen hatte.
Die brausende Bewegung der Bilder erzeugte
in jedem einzelnen das Gefühl der tiefsten
individuellen Verbundenheit mit dem Heiland,
die gleichzeitig das Erlebnis der Verbundenheit
mit dem eigenen ewigen Wesen,
mit der eigenen ewigen Individualität
als das tiefste Herzensfeuer
einer rein gesitigen Liebe entflammte.
In diesem Feuer leuchteten nun alle Begegnungen auf,
die sie in den 40 Tagen von Ostern
bis Himmelfahrt im Umgang
mit dem Auferstandenen erlebt hatten.
Sie erfuhren dann in diesem Licht und Feuer
die volle Erweckung des Geistbewusstseins,
indem der tiefere Sinn, das Wesenhafte
alles dessen ihnen bewusst wurde,
was sie mit dem Herrn
während seines Erdenwandels erlebt hatten.
In einer unmittelbaren Erleuchtung
verstanden sie sein Wesen,
sein Wandeln und seine Tat.
Sie begriffen vollständig,
wer dieses Wesen ist.
Und so konnten sie, jeder einzelne,
aus der Erhöhung ihres eigenen Wesens
ihre gemeinsame Verbundenheit
mit dem Gotteswesen
auf die individuellste Weise erfahren,
und sie vermochten aus der voll erwachten Freiheit alles,
was sie verstanden hatten -
wiederum jeder in seiner Weise -, auszusprechen.
Sie erfuhren im Wort den Zusammenklang
der erleuchteten Erkenntnis
und der wärmenden Empfindung.
Dies gab ihnen die Vollmacht, so zu sprechen,
dass jeder andere
sich ganz persönlich berührt fühlen konnte.
Eine ewige Zukunft hatte angefangen zu sprechen.
Friedrich Benesch:
Pfingsten heute
Gemeinschaft im Zeichen
des Individualismus