07/09/2010

Wunder der Wirklichkeit



Als nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches bekannt wurde, dass sich unter den sogenannten entwurzelten Personen, welche die Landstraßen Deutschlands und die Sammellager der Alliierten bevölkerten, zahlreiche Kinder von vergasten und lebendig verbrannten Juden befanden, beschlossen die wenigen jüdischen Emigrantenfamilien, die auf der Flucht vor den Nazis ein Asyl in Mexiko gefunden hatten, dreißig dieser Waisen in ihre neue Heimat kommen zu lassen und an Kindes statt bei sich aufzunehmen...
An einem Herbsttag des Jahres 1946 sahen die nach dem Hafen von Veracruz gerufenen Pflegeeltern ihre künftigen Adoptivkinder die Fallreeptreppe eines brasilianischen Frachtdampfers heruntersteigen und auf sich zukommen. Jeder der kleinen Ankömmlinge hatte ein Medaillon aus Pappe mit seinen - zumeist sehr dürftigen - Personaldaten umgehängt. Zwei der Medaillons waren blank. Über ihre Träger, einen ungefähr sechsjährigen Knaben und ein etwas jüngeres Mädchen, hatte das Hilfskomitee trotz eifrigster Nachforschungen nichts anderes in Erfahrung bringen können, als dass sie in der Nähe des Konzentrationslagers Ravensbrück gefunden worden waren und dass sie vermutlich Geschwister waren.
Als sich bei der nach einem lange vorher festgelegten Plan vorgenommenen Aufteilung der Waisen auf die Adoptiveltern herausstellte, dass die Geschwister von Ravensbrück (so hatte man die beiden, deren Identität nicht feststand, getauft) voneinander getrennt und bei verschiedenen Familien - der Junge in Acapulco, das Mädchen in Puebla - untergebracht werden würden, fing die Kleine, indem sie sich verzweifelt an den Bruder klammerte, herzzerbrechend zu weinen an und konnte weder durch Zureden noch durch Liebkosungen beruhigt werden.
So rührend erschien das Mädchen in seinem Kummer den Eheleuten B., bei denen es Aufnahme finden sollte, dass sie sich, ohne Rücksicht darauf, wie schwer es ihnen fallen würde, entschlossen, auch den Knaben zu sich zu nehmen. Welches Vorhaben allerdings leichter gefasst als ausgeführt war, denn die Familie aus Acapulco wollte den Jungen zunächst unter keinen Umständen freigeben, und es bedurfte vieler beredter Vorstellunegn, vieler Tränen und Versprechen, bis sie sich umstimmen ließ.
Endlich aber war es soweit, und die B.s konnten mit den beiden Geschwistern nach ihrem Wohnort Puebla abreisen. Dort angelangt, machte Frau B. sich sogleich daran, die Kinder, die noch in dem Zeug steckten, das sie bei ihrer Auffindung im Ravensbrückischen getragen, frisch einzukleiden. Sie hatte die alten Kleider schon zu einem Bündel für den Lumpensammler zusammengeschnürt, als ihr der Gedanke kam, den Geschwistern je ein Kleidungsstück - eine Schürze und einen Rock - als Andenken an ihre dunkle Frühzeit aufzuheben.
Wer beschreibt die Erschütterung der Frau, als sie beim Säubern des Rockes einen mit halbverwischten Bleistiftkritzeln bedeckten Zettel entdeckte, dessen Botschaft lautete:
"Ich schreibe diese Zeilen eine Stunde vor meinem Abtransport nach dem Vergasungslager in der wahnwitzigen und doch nicht untergehenwollenden Hoffnung, dass meine zwei Kinder mit dem Leben davonkommen und Unterschlupf und Hilfe bei großherzigen Menschen finden könnten. Wenn diese Hoffnung sich erfüllt, bitte ich die Beschützer meiner Kinder, ein übriges zu tun und von ihrer Rettung meine Schwester, das einzige Mitglied unserer Familie, das sich ins Ausland retten konnte, zu benachrichtigen..."
Diese Schwester im Auslande war aber niemand anders als Frau B.
 

Franz Carl Weiskopf: Die Geschwister von Ravensbrück
Anna Seghers, die Weiskopf diese Geschichte erzählte, damit er sie zu einer Anekdote schreiben konnte, nannte solche Ereignisse "Wunder der Wirklichkeit".





4 Kommentare:

  1. Ich danke dir sehr dafuer, dass du die Erzaehlung dieses Wunders hier weitergibst. Sie ist fast wie ein Maerchen.

    Reminiscences in meinem blog befassen sich mit dieser Zeit in Deutschland, aber bisher traue ich mich nicht, eine ganz besondere Geschichte zu erzaehlen, eine Alltagsgeschichte, die kein gutes Ende hat.

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  2. Friko, ich habe ein bisschen in "reminiscences " geblättert; da ich Englisch aber längst nicht so schnell lesen kann wie Deutsch, wird es noch ein bisschen dauern.

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  3. Ich weine hier total erschüttert. Und die Rosenbilder machen sprachlos. Danke, einmal mehr.
    Gabiela

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  4. Die Rosenbilder sind am Montag, 6.9., aufgenommen, Gabriela; an diesem Morgen hatte sich der Tau in diese Abertausend von Tränen verteilt. Ich hatte die Empfindung von Tränen und zugleich Perlen, das eine nicht ohne das andere; die Perlen als Früchte der Tränen.

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