10/02/2011

Legende...

  ...von der Entstehung des Buches Taoteking
auf dem Weg des Laotse in die Emigration 

Als er siebzig war und war gebrechlich
Drängte es den Lehrer doch zur Ruh.
Denn die Güte war im Lande wieder einmal schwächlich
Und die Bosheit nahm an Kräften wieder einmal zu
Und er gürtete den Schuh. 

Und er packte ein, was er so brauchte:
Wenig. Doch es wurde dies und das.
So die Pfeife, die er immer abends rauchte
Und das Büchlein, das er immer las.
Weißbrot nach dem Augenmaß.

Freute sich des Tals noch einmal und vergaß es
Als er ins Gebirg den Weg einschlug.
Und sein Ochse freute sich des frischen Grases
Kauend, während er den Alten trug
Denn dem ging es schnell genug. 

Doch am vierten Tag im Felsgesteine
Hat ein Zöllner ihm den Weg verwehrt:
„Kostbarkeiten zu verzollen?“ – „Keine.“
Und der Knabe, der den Ochsen führte
Sprach: „Er hat gelehrt.“
Und so war auch das erklärt. 

Doch der Mann in einer heitren Regung
Fragte noch: „Hat er was rausgekriegt?“
Sprach der Knabe: „Daß das weiche Wasser in Bewegung
Mit der Zeit den mächtigen Stein besiegt.
Du verstehst, das Harte unterliegt.“ 

Dass er nicht das letzte Tageslicht verlöre
Trieb der Knabe nun den Ochsen an.
Und die drei verschwanden schon um eine schwarze Föhre
Da kam plötzlich Fahrt in unsern Mann
Und er schrie: „He, du! Halt an! 

Was ist das mit diesem Wasser, Alter?“
Hielt der Alte: „Interessiert es dich?“
Sprach der Mann: „Ich bin nur Zollverwalter
Doch wer wen besiegt, das interessiert auch mich.
Wenn du’s weißt, dann sprich! 

Schreib mir’s auf! Diktier es diesem Kinde!
Sowas nimmt man doch nicht mit sich fort.
Da gibt’s doch Papier bei uns und Tinte.
Und ein Nachtmahl gibt es auch: ich wohne dort.
Nun, ist das ein Wort?“ 

Über seine Schulter sah der Alte
Auf den Mann. Flickjoppe. Keine Schuh.
Und die Stirne eine einzige Falte.
Ach, kein Sieger trat da auf ihn zu.
Und er murmelte: „Auch du?“ 

Eine höfliche Bitte abzuschlagen
War der Alte, wie es schien, zu alt.
Denn er sagte laut: „Die etwas fragen  
Die verdienen Antwort.“ Sprach der Knabe: „Es wird auch schon kalt.“
„Gut, ein kleiner Aufenthalt.“ 

Und von seinem Ochsen stieg der Weise.
Sieben Tage schrieben sie zu zweit.
Und der Zöllner brachte Essen (und er fluchte nur noch leise
Mit den Schmugglern in der ganzen Zeit).
Und dann war’s soweit. 

Und dem Zöllner händigte der Knabe
Eines Morgens einundachtzig Sprüche ein.
Und mit Dank für eine kleine Reisegabe
Bogen sie um jene Föhre ins Gestein.
Sagt jetzt: kann man höflicher sein? 

Aber rühmen wir nicht nur den Weisen
Dessen Name auf dem Buche prangt!
Denn man muss dem Weisen seine Weisheit erst entreißen.
Darum sei der Zöllner auch bedankt:
Er hat sie ihm abverlangt. 

Bertolt Brecht


5 Kommentare:

  1. Der Wissende redet nicht,
    der Redende weiß nicht.
    Schließe deinen Mund
    und halte an dich.
    Mach deine Schärfe stumpf,
    vermeide Verstrickung,
    verdeck deinen Glanz
    und sei der Erde nah.
    Dies ist Einklang mit Tao.
    Weder Zuneigung noch Abneigung
    berühren dich dann,
    weder Nutzen noch Schaden,
    weder Lob noch Tadel.
    Dies ist der wahre Adelsstand.

    Laotse


    Ja, so ist es.

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  2. Ich weiss, dass ich nichts weiss.
    Und adelig bin ich auch nicht.
    Daher schreibe ich jetzt weiter...

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  3. Als wir diese Ballade in der Schule durchnahmen, konnte ich sie auswendig. Ich liebe sie heute noch wegen des Satzes:
    "Dass das weiche Wasser in Bewegung
    Mit der Zeit den mächtigen Stein besiegt.
    Du verstehst, das Harte unterliegt.“

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  4. ja, diese Stelle ist markant, doch diese hier, ist von Bedeutung:

    Aber rühmen wir nicht nur den Weisen
    Dessen Name auf dem Buche prangt!
    Denn man muss dem Weisen seine Weisheit erst entreißen.
    Darum sei der Zöllner auch bedankt:
    Er hat sie ihm abverlangt.

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  5. Das hat Brecht geschrieben? Wunderbar. Weiser Mann.

    Ja Monika, das dachte ich auch. Wenn keiner danach fragt, bleibt Wissen unentdeckt - denn die Weisen dürfen es nicht einfach so verlautbaren. Wohl dem einfachen Mann (Frau), der Fragen hat...
    ;)

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