27/01/2010

sonnig


Sehen Sie, in allen alten Mysterien galt eine bestimmte Lehre,
die, wenn man sie in ihrem Inhalte gewahr wird,
eigentlich einen tief erschütternden Eindruck macht.
Derjenige, der in ein altes Mysterium eingeführt worden ist,
Schüler geworden ist,
nach und nach in die Initiationswissenschaft hineingekommen ist,
der kam auf einer gewissen Stufe seiner inneren Entwickelung dazu,
dass er die Eindrücke, die er empfing,
so charakterisierte
– nun, meine lieben Freunde, geben Sie acht darauf,
wie ich etwa den Monolog eines solchen alten Initiierten,
den er nach dem Erreichen einer gewissen Initiationsstufe
hätte sprechen können,
jetzt vor Ihnen spreche -,
solch ein Initiierter würde also etwa so gesagt haben:

Wenn ich während des Tages auf freiem Felde stehe,
den ahnenden Blick nach aufwärts richte,
mich den Eindrücken der Sinne hingebe,
so sehe ich die Sonne.
Ich nehme sie wahr in ihrer blendenden Stärke am Mittag,
und ich ahne und schaue
hinter der blendenden Stärke der Sonne am Mittag
das Wirken von geistigen Wesenheiten
der zweiten Hierarchie im Sonnenhaften.
Vor meiner Initiation schwand hinunter das Sonnenhafte
mit dem abendlichen Untergange der Sonne.
In dem Erscheinen der Abendröte
verschwand das Scheinen der Sonne.
Und ich machte vor meiner Initiation den Nachtweg durch,
indem Finsternis um mich ward,
und am Morgen erinnerte ich mich an diese Finsternis,
wenn die Morgendämmerung kam
und aus der Morgendämmerung heraus
wiederum die Sonne erschien,
um ihren Weg zu machen zur blendenden Helle des Mittags.
Jetzt aber, nachdem ich die Initiation erlangt habe, ist es so:
Wenn ich die Morgenröte erlebe,
und die Sonne aus der Morgenröte
wiederum zu ihrem Tagesgange sich anschickt,
wird in mir die Erinnerung an das nächtliche Leben wach.
Ich weiß, was ich während des nächtlichen Lebens erlebt habe.
Ich erinnere mich ganz genau, dass ich geschaut habe,
wie nach und nach ein bläulich glimmerndes Licht
von der Abenddämmerung aus
weiterhin ging von Westen nach dem Osten,
und wie ich schaute,
woran ich mich jetzt genau erinnere,
um die Mitternachtsstunde die Sonne
am entgegengesetzten Himmelspunkte,
gegenüber dem Punkte,
wo sie in ihrer glänzenden Mittagsstärke war,
in ihrem Glimmen,
das so moralisch eindrucksvoll ist,
hinter der Erde.

Ich habe gesehen die Sonne um Mitternacht.

Rudolf Steiner
GA 236, 27. Juni 1924




4 Kommentare:

  1. oh.

    staunen.

    ahnen.

    "Herr, lehre uns beten!"
    woher kommt dieser tief empfundene Seufzer wohl jetzt gerade?

    Lieben Gruss

    Gabriela

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  2. Liebe Gabriela,
    mir ist zu dieser "Mitternachtssonne" ein Spruch eingefallen, den ich, als meine großen Kinder klein waren, immer während der Weihnachtstage mit ihnen beim Schlafengehen gesprochen habe:

    Sonne um Mitternacht
    hat uns Maria bracht.
    Christ ist geboren,
    der Erde erkoren.

    Sonne um Mitternacht
    heut aus dem Kripplein lacht.
    Christ ist geboren,
    der Erde erkoren.

    Sonne um Mitternacht
    wieder in Christ erwacht.
    Gott ist geboren,
    der Erde erkoren.

    (Ich weiß im Moment nicht den Verfasser.)

    Dieser Gegensatz von tiefschwarzer Nacht und Sonne sehen, das ist Glaube (glaube ich).

    Auf dein Stichwort "Herr, lehre uns beten!" fiel mir nun, nachdem ich doch eine längere Weile auf dieses Kommentarfeld gestarrt hatte, ein anderer Vortrag von Rudolf Steiner ein, den er am 17. Februar 1910 in Berlin gehalten hat: "Das Wesen des Gebetes".

    Jetzt habe ich eine Stelle darin gefunden, die zusammenklingt (in meinem Ohr) mit den Worten aus den alten Mysterien: "Wenn wir so unsere Gegenwart an unsere Vergangenheit anreihen, dann wird uns ein Gefühl von dem überschleichen, was wir so nennen können: Oh, es ist etwas in uns, was unendlich viel reicher, unendlich viel bedeutsamer ist als das, was wir durch unsern Willen, durch unser Bewusstsein, durch unsere individuellen Kräfte aus uns gemacht haben! Denn gäbe es nicht in uns etwas, was hinausragt über das, was wir aus uns gemacht haben, so könnten wir uns auch nicht selber tadeln, auch uns selber nicht erkennen. Wir müssen sagen: In uns lebt etwas, was größer ist als das, was wir bisher an uns selber ausgenützt haben! Wenn wir ein solches Urteil in ein Gefühl verwandeln,(...) werden wir etwas in uns ahnen, was über uns selbst hinausragt, wenn wir jenen Strom ansehen, der aus der Vergangenheit in die Seele fließt. Und diese Ahnung eines Größeren in uns selber ist im Grunde das erste Aufleuchten des inneren Gottesgefühles in der Seele; ein Gefühl davon, dass in uns selber etwas lebt, was größer ist als alles, was zunächst in unsere Willkür gestellt ist, und das bewirkt, dass das Gottesgefühl in uns erwacht, dass wir hinschauen auf etwas, was uns über unser engbegrenztes Ich hinausführt zu einem geistig-göttlichen Ich. (...)Wenn so die Seele (...) das Mächtige im Strom aus der Vergangenheit in sich hineinfließen fühlt, dann erzeugt sich das, was man nennen könnte die Andacht gegenüber dem Göttlichen, das uns aus der Vergangenheit anschaut. Und diese Andacht gegenüber dem Göttlichen, das uns aus der Vergangenheit anschaut, das wir ahnen können als etwas, was auf uns wirkt, dem wir aber mit unserem Bewusstsein nicht gewachsen sind, erzeugt (...) jene Gebetsstimmung, die wir bezeichnen können als diejenige, welche zur Gottinnigkeit führt. Denn was wird die Seele wollen können, wenn sie still und intim sich diesen Empfindungen und Gefühlen gegenüber solcher Vergangenheit hingibt? Sie wird wollen können, dass das Mächtigere, das sie unbenutzt gelassen hat, das sie mit ihrem Ich nicht durchdrungen hat, in ihr gegenwärtig werde. (...) Wenn diese Stimmung in der Seele sich auslebt, sei es durch ein Gefühl, durch ein Wort oder eine Idee, dann haben wir das Gebet gegenüber der Vergangenheit. Dann suchen wir uns auf einem Wege dem Göttlichen andächtig zu nähern."

    (Entschuldige die Wörter-Dusche...)
    Das Vater unser wäre kürzer gewesen...

    Stefanie

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  3. Guten Abend ihr zwei
    Im Meditieren über die Sonne um Mitternacht, die ihre entsprechende Farbe hat, erkenne ich den Zusammenhang mit meinem Post.

    Stefanie, von solchen Wörter-Duschen lasse ich mich gerne duschen ... :-)
    MonikaMaria

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  4. Danke für die Dusche, liebe Stephanie.
    Wie dankbar mich das macht: Ich stelle eine(n) Frage(hahn) an, und schon darf ich mich duschen lassen. Daran werde ich heute denken, wenn ich mit den Jüngsten nach dem Schwimmkurs in diesem Dampfraum stehe und Köpfe einseife und versuchen werde, bei diesem Dröhnen von Wasser, Föhns, Kindergeschrei und Mütterermahnungen nicht durchzudrehen.
    Es sollte ja möglich sein, seine Seele auch in solchen Momenten zu spüren und aufmerksam zu sein...
    Lieben Gruss dir
    Gabriela

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